BlogbeitragWo ist unsere Wildheit hin?

Wo ist unsere Wildheit hin?

Eine Hommage an Helmut Newton, ein Appell für mehr Wildheit und auch mal ein Schlingel sein dürfen… Happy Bdy zum 100. Geburtstag Mr. Newton ❤

  • Kennt ihr diese Momente, in denen man nichtsahnend Fernsehen schaut und beim Zappen gebannt irgendwo hängenbleibt? So geschehen am Samstag. Beim Durchschalten flackerten diese unfassbar schönen, grafischen, kraftvollen Fotos von Helmut Newton über den Bildschirm und sofort erwischten mich unerwartet und voller Wucht Erinnerungen und Gefühle an eigene wilde Zeiten im Berlin der 90er in dunklen illegalen Kellerbars in Prenzlauer Berg und Mitte, an ganze Sommer auf den Dächern, Fotoshootings in verlassenen Häusern und Kasernen und Partys, die nie endeten. Newtons Blick fing dieses Lebensgefühl für mich ein. Letztlich ist aus diesem Lebensgefühl auch die heutige ideenmanufaktur GmbH entstanden.

    Am 31. Oktober 2020 wäre Helmut Newton 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigte 3sat die filmische Liebeserklärung „Helmut Newton - The Bad And The Beautiful“ von Gero von Boehm über diesen Ausnahmekünstler, der unterhalten, provoziert, polarisiert hat, aber auch den Blick für Mode und die Sicht auf Frauen verändert hat. „Er hat die Modefotografie revolutioniert, als es höchste Zeit dafür war. Bis dahin war alles nur schön und lieblich“, erinnert sich von Boehm.
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  • Vor allem die filmische Dokumentation und Interviews mit Models, Schauspielerinnen aber auch seiner Frau June haben mich wieder in eine Zeit entführt, die auf so schmerzhafte Art Vergangenheit ist. Bewusst wurde mir das besonders während der Passagen, wenn Helmut beim Arbeiten gefilmt wurde, wie er Dinge gesehen, bewertet, inszeniert und revolutioniert hat, wie er das gesamte Set geleitet, aber eigentlich mit seiner Persönlichkeit verzaubert hat und alle Anwesenden in eine Stimmung versetzt hat, die man in voller Dimension nur spüren konnte wenn man wirklich dabei war. Und wie er selbst harte Nüsse, wie eine Anna Wintour (Chefredakteurin der US-amerikanischen Ausgabe der Vogue und eine der einflussreichsten Frauen in der Modebranche) so gekonnt um den Finger wickeln konnte, Briefe mit „Ihr Schlingel“ unterzeichnete und ihr damit ein derart verzücktes Lächeln entlocken konnte, wie ich es bei ihr nicht für möglich gehalten hätte.

    Und plötzlich war da diese Erkenntnis, was sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten langsam aber unaufhaltsam aus meinem und vielleicht aus unser aller Leben verabschiedet hat und mit Corona und den aktuell verschärften Einschränkungen seinen Höhepunkt (oder Tiefpunkt?) findet – pure Wildheit, ausgelassen sein, Freiräume, Vakuum für Neues, unbändige Lust auf das Leben, Feiern, vereint durch einen Beat, der die ganze Nacht trägt, über die Stränge schlagen, Rausch und Farbrausch, unmittelbar sein, provokant ohne dabei boshaft zu sein, politisch korrekt sein ohne political correctness, Nächte durchmachen ohne ans Morgen denken, fahren ohne Sturzhelm und angeschnallt sein und denken, sprechen und schreiben ohne Gendersternchen.
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  • Unser Leben ist ohne Frage reich, agil, digital und vieles ist gut, gerecht, zeitgemäß, folgerichtig. Mein Eindruck ist dennoch, dass wir wertemäßig sehr einseitig geworden sind. Alles was sicher, gerecht, korrekt ist, darf oder muss sein, wir sind verkopft, brauchen Yoga, Meditation und Achtsamkeitstagebücher weil wir nicht mehr an unsere Gefühle rankommen – Ironie, Spaß, Provokanz, Wildheit, Individualität, die ganze Klaviatur der Gefühle finden zunehmend weniger statt, Sprache wird direkt relativiert oder ist totalitär. Wir propagieren Diversität und ersticken sie gleichzeitig im Keim.

    Versteht mich nicht falsch, ich bin eine Gerechtigkeitsfanatikerin, ich bin so weit, zu behaupten, dass ich für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (in alle Richtungen!) kämpfe, aber manchmal fehlt mir das Spontane, das Wilde, das Verbotene, Freiheit, verschieden sein dürfen, Sachen auszuprobieren, auch in der Gefahr, Fehler zu machen, die auf ganz andere Weise Energie geben und uns lebendig werden lassen. Newton hatte Humor. Und Selbstironie. Was hätte er wohl gemacht in diesen Zeiten?
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  • Helmut Newton ist recht früh in mein Leben getreten. Ganz genau kann ich es nicht mehr nachvollziehen, aber es war während meiner Ausbildung zur Damenmaßschneiderin und ich war noch nicht volljährig. Diese schönen, stolzen, starken Frauen, Männer und androgynen Wesen, meist in schwarz-weiß fotografiert, mit starken Kontrasten und grober Körnung haben mich in meiner Jugend schwer beeindruckt und nachhaltig geprägt. Ich wollte so sein wie sie: unantastbar, ungewöhnlich, einzigartig, stark, modern und anders als die anderen. Mainstream war mir zuwider. Verstärkt wurde dies in meiner Zeit am Friedrichstadtpalast und durch mein Umfeld in den Nachwende-Jahren, bestehend aus Künstlern, Tänzern, Schauspielern, Fotografen, Studenten, Journalisten und vielen Nachtgestalten. Durch meine Lehre konnte ich mir meine Anzüge und androgynen Klamotten selbst schneidern und konnte mit jeder Faser meines Körpers die Wildheit leben.
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  • Newton stammte aus einer jüdischen Familie. Seine Jugend verbrachte er in Berlin, wo er bei Yva, der ersten wirklichen Modefotografin seine ersten fotografische Schritte und seine Fotografen-Ausbildung machte. 1938 musste er vor den Nazis aus Berlin fliehen. In Melbourne nahm er die australische Staatsbürgerschaft an, später lebte er in Paris, Monaco und Los Angeles.

    Helmut Newton hat unzählige Fotos produziert. Darunter gibt es zahlreiche Nacktaufnahmen. Bei den vielen Fotos der schönen Frauen und den erotisch-provozierenden Motiven wird man leicht verführt, in Newton den großen Verführer zu sehen, der die Frauen reihenweise verführte. Hat er aber nicht. Er hat seine Frau June getroffen, geheiratet und sie als seine Muse gekürt, die ihn Zeit seines Lebens begleitet hat – menschlich, künstlerisch, unternehmerisch.

    Eigentlich müssten hier die vielen Frauen zu Wort kommen, mit denen Newton gearbeitet hat. Sie könnten ihn wahrscheinlich viel besser porträtieren. Im Film kommen 10 tolle Frauen zu Wort.
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  • Selbst der Tagesspiegel stellt die Frage, ob man in Zeiten von #Metoo einen Film über den Fotografen Helmut Newton drehen kann. Man kann. Dieser wunderbare Film kommt am 7. Juli 2021 übrigens in die Kinos. Und wem das zu lange dauert, der kann die Outdoor-Ausstellung besuchen. Mit einer 85 Meter langen Fotowand vor dem Kraftwerk in Kreuzberg wird seit Freitag in Berlin an den 100. Geburtstag des Fotografen Helmut Newton (1920-2004) erinnert.

    www.berlin.de/kultur-und-tickets/nachrichten/6341147-2154924-85-meter-helmut-newton-plakatwand-erinne.html
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    Foto: © Henry Besser // restliche Fotos © ideenmanufaktur / JJ / JB
  • Berlin blieb Newton verbunden, 2003 vermachte er der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin sein Werk, seine Newton-Stiftung bespielt damit das Fotomuseum in Berlin. Am Bahnhof Zoo gibt es die ständige Ausstellung zu sehen. Ein bisschen Lebensgefühlt to go. Vielleicht entsteht aber auch ein neues Lebensgefühl – vielleicht wild, gerecht, positiv, kraftvoll, solidarisch, dankbar und ungestüm. Und jemand, der es fotografiert.

    Seid wild und wunderbar – momentan eben Zuhause…

    Eure Jana