BlogbeitragWie viel Experimente erlauben wir uns und was können wir uns vom Segeln abschauen?

Wie viel Experimente erlauben wir uns und was können wir uns vom Segeln abschauen?
Keine Sorge, dies wird kein Urlaubsbericht und soll auch nicht neidisch machen. Es gibt dafür auch keinen Grund. Das Leben an Bord ist meist weniger komfortabel, als sich viele Nichtsegler*innen das so vorstellen.

Ich möchte einfach von meinen Erfahrungen berichten und auf welche schönen und hilfreichen Erkenntnisse ich dabei gestoßen bin. Vielleicht inspiriert es euch, nochmal anders auf euer Leben, Arbeiten und eure Routinen zu schauen.
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  • Warum ist es so wichtig, zu experimentieren, erproben, Thesen zu prüfen, in der Praxis die Theorie zu testen und warum lohnt es, sich dafür Zeit zu nehmen?

    Beim Segeln komme ich früher oder später – wenn die Segel gesetzt und optimiert sind, der Wind mit voller Kraft das Schiff vorantreibt, sich ein gleichmäßiger Rhythmus eingestellt hat und die Wellen am Schiff vorbeiplätschern – an einen Punkt, an dem die Gedanken vorbeiziehen wie Wolken und an Themen vorbeikommen, die es sonst nicht so in mein Bewusstsein schaffen. Vermutlich hängt es eng zusammen mit den Erfahrungen, die ich von morgens bis abends auf dem Boot mache.

    Ständig ist alles wieder neu, am Morgen weiß ich oft nicht, wie der Tag verläuft, wie der Wind tatsächlich weht, welche Herausforderungen auf mich warten, wo und wann wir ankommen und wie oft ich aus meiner Komfortzone geworfen werde.
     
    Eines aber ist sicher: nichts ist sicher.
    Eine der wichtigsten Tugenden an Bord dafür ist Gelassenheit. Und nicht aufgeben. Etwas was wir als Kinder bis zur Perfektion beherrschen, wenn wir laufen lernen, und es im Laufe unseres Lebens wieder verlernen.

    Mein sonstiger Alltag in Berlin bietet inzwischen, seit die Kinder groß sind, ein gewisses Maß an Flexibilität. Aber einige Routinen bestimmen dennoch mein Leben – mehr als mir beim genauen Hinschauen lieb ist. Meine Wohnung, mein Büro befinden sich immer am selben Ort. Die Wege zu den Supermärkten, Freund*innen, zu Ärzt*innen oder ins Restaurant sind oft dieselben. Ich komme so gut wie nie auf die Idee, daran etwas zu ändern. Das Wetter tangiert mich in der Stadt eher wenig, ich nehme das Fahrrad, den Roller oder im Zweifel einen Schirm. Wenn es hart auf hart kommt, bleibe ich im Homeoffice. Wenn es zu heiß wird, flüchte ich aus der Stadt an den See oder in einen der Gärten, z.B. bei meinen Eltern. Dadurch wirkt für mich das Leben in den heimischen Gefilden viel vorhersehbarer, flacher, die Ausschläge nach oben oder unten sind weniger spürbar. Wenn ich Dinge ausprobiere, ist das oft kulinarisch. Aber wenn ich mir Raum für Experimente schaffen möchte – gerade in beruflichen Kontexten – muss ich das sehr bewusst tun. Es passiert meist nicht einfach. Die Routine ist wie klebriges Gas, das sich immer wieder ausbreitet aus einer unerschöpflichen Quelle heraus. Ein gewisses Maß bietet uns möglicherweise Stabilität und Sicherheit, weil wir sonst ständig außer Puste wären. Wer weiß es schon. Aber mein Gefühl ist, dass regelmäßiges Lüften hilft, Routinen zu durchbrechen. Die Dinge hinterfragen, nichts einfach so stehen lassen, weil die Macht der Gewohnheit so stark ist. Ungläubig sein, damit immer wieder neue Ebenen zutage treten – gemeinsam experimentieren. Segeln hilft übrigens beim Lüften auf allen Ebenen.
  • Warum ist experimentieren so wichtig?

    Warum ist experimentieren so wichtig?
    Die Pandemie hat es gezeigt, aber auch die anderen großen Fragen unserer Zeit wie die Auswirkungen des Klimawandels, die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse im Kleinen wie Großen – wir leben stärker denn je in einer Zeit der Unsicherheit und Ungewissheit. Wir erleben immer häufiger Situationen, die weder plan- noch kalkulierbar sind. Wir verlieren die Kontrolle, die wir vorher nur scheinbar hatten und sehen die Risiken bedrohlich näherkommen. Wenn wir dann versuchen, dem Gefühl des Kontrollverlustes mit alten Bordmitteln entgegenzuwirken, laufen wir ins Leere. Unsere bekannten und scheinbar bewährten Tools wie Planung, Steuerung und Kontrolle funktionieren nicht mehr. Was aber funktioniert stattdessen?

    Wenn wir das Experimentieren transparent „erlauben“, ihm einen offiziellen Stellenwert und eine Wichtigkeit geben, entsteht eine mutige Unternehmenskultur, die auf Erneuerung und Lebendigkeit basiert.

    Es entwickelt sich eine Kultur, die ermöglicht, Lernen als Teil des Auftrags zu leben und gleichzeitig Risiken einzugehen.

    Beim Segeln passiert ständig irgendetwas Unvorhergesehenes. Es sind meist nicht die größeren Katastrophen, wie ein Mastbruch, Wassereinbruch oder ein kaputtes Ruder. Auch die kleineren Unfälle oder Malheure stellen einen ordentlich auf die Probe. Ich selbst habe im Laufe der Zeit schon eine kochende (weil defekte) Starter-Batterie erlebt (inklusive giftiger Dämpfe und besonders ungünstig beim Ankern in Buchten, wenn der Wind zum Ablegen aus der falschen Richtung kommt), kaputte Seeventile, verstopfte Toiletten, von allein verschlossene Kabinentüren, weil der Schließmechanismus durch den Wellengang ausgelöst wurde und diverse defekte Kleinteile mit großer Wirkung.
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    Und dann beginnt der Spaß des Ausprobierens. Und das ist vielleicht auch ein Teil des Zaubers. Dass ich auf eine Art und Weise gefordert bin, die im Alltag wenig vorkommt und anders kreativ werden muss. Weil es einen direkten praktischen und sichtbaren Sinn macht. Den Fragen nachzugehen: Was genau funktioniert nicht? Wo konkret liegt der Fehler? Wie schwerwiegend ist die Beeinträchtigung? Was haben wir an Bord dabei, um uns selbst zu helfen?

    Das Ausprobieren und Experimentieren sowie eine systematische Herangehensweise für das Finden von zukunftsfähigen Lösungen, ist unser individueller und zugleich kollektiver Lernprozess, der zu vermehrten Erkenntnissen und Einsichten führt, selbst dann, wenn die Ergebnisse nicht immer zu konkreten und verwertbaren Lösungen für ein Problem führen. Die kollektive Erkenntnis ist, dass nur auf diese Weise Fortschritt möglich ist.

    „Nicht alles, was ausprobiert wird, funktioniert auch. Aber all das, was funktioniert, wurde ausprobiert.“

    Experimentieren – vor allem im Team – verbindet und schweißt zusammen. Oft entstehen Erfindungen in Teamarbeit. Die gegenseitige Inspiration und Ermutigung, das Feedback, die kollektiven Erfahrungen und ein gemeinsames Ziel sind übrigens auch perfekte Zutaten für eine zeitgemäße Teamentwicklung.
  • Wie können wir Experimente fördern?

    • Wir können als Führung oder auch im Team oder in unserem Umfeld ermutigen, nicht aufzugeben, auch wenn ein (Business) Case oder eine Aufgabenstellung nicht immer klar ist. Mut braucht es auch, weil Experimente auch scheitern können.
    • Wir können Rückendeckung geben, gerade wenn nicht immer verwertbare Ergebnisse entstehen und somit ein Risiko besteht.
    • Wir können ein Thema oder Projekt höher priorisieren und Zeit und Ressourcen bereitstellen um Raum und Muße für die Konzipierung und Umsetzung von Experimenten zu fördern.
    • Für Klarheit sorgen, heißt, die Grundlagen schaffen, da alles Experimentelle nicht nur klar definiert, sondern auch auf konkrete Fragestellungen ausgerichtet werden muss. Nur so werden Resultate erzielt, die zielführend und zukunftsfähig sein können.
    • Bei der Teamauswahl verschiedene Charaktere, Herangehensweisen, Denkweisen und unterschiedliches Know-how berücksichtigen, damit mutige Experimente entworfen und durchgeführt werden.

    Für Wissenschaftler*innen und Forscher*innen ist experimentieren meist die Basis ihrer Arbeit. Dem Experimentieren liegt aber ein Zauber für alle inne.

    Wer experimentiert, stößt auf Sackgassen, Irrtümer und Fehleinschätzungen, manchmal auf gordische Knoten, komplexes Material und praktische Hindernisse. Aber wenn am Ende eine Lösung gefunden, das Problem behoben wurde oder wie auf den Fotos zu sehen – das Gennaker (Mischung aus Genua, also großes Vorsegel und Spinnaker, sehr großes, dünnes, leichtes Segel einsetzbar bei wenig Wind) steht und aus 2kn plötzlich 4kn Wind macht, ist das ein Gefühl der Freude und inneren Sättigung, das man für kein Geld der Welt kaufen kann und dass uns stärkt für die nächsten Widernisse.
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    Experimente, die erfolgreich sein müssen, deren Ausgang sicher ist, sind keine Experimente. Sie fungieren ungeniert unter dem Label, verhindern aber die Suche nach tatsächlichen Wegen und Lösungen. Unternehmen, die unter falschen Labeln agieren, riskieren, dass die Menschen krank werden.

    Zu einem zukunftsorientierten Mindset gehört also das Experiment, ja die moderne Strategie ist das Experiment, lese ich bei Anja Förster & Peter Kreuz in „Vergeude keine Krise“. Man kann von Facebook halten was man will. Dass Facebook erfolgreich ist, kann man nicht bestreiten.

    „Facebook-Chef Mark Zuckerberg sagt dazu: „der wahre Kern unseres Erfolgs liegt in diesem System des permanenten Testens… Zu jedem Zeitpunkt gibt es nicht nur eine Version von Facebook. Wahrscheinlich sind es 10000!“. … „Ein für uns besonders charakteristischer Bereich ist das Scheitern. Wir sind der beste Ort auf der Welt um zu scheitern (wir haben viel Übung) Scheitern und Erfindungen sind unzertrennliche Zwillinge.“

    „Der Wunsch nach Experimenten, die garantiert gelingen, ist ebenso paradox wie der Wunsch in den Himmel zu kommen ohne vorher sterben zu müssen.“
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    Ein Experiment aus meiner sehr frühen Kindheit ist eines mit der Oberflächenspannung des Wassers. Wenn man ein Streichholz oder eine Büroklammer vorsichtig auf die Wasseroberfläche legt, schwimmt es. Wenn man dann einen Tropfen Spülmittel ins Wasser gibt, wird die Oberflächenspannung des Wasers zerstört und der Gegenstand geht unter. Ich kann heute noch die Faszination spüren, die es ausgelöst hat …

    Schiffe können übrigens auch untergehen, wenn die Oberflächenspannung beeinflusst wird oder wenn durch aufsteigendes unterseeisches Methan als Gasbläschen, die wie Sprudelwasser wirken, die Dichte geringer wird als die des umgebenen Wassers und den Auftrieb verhindern. Das erste Mal las ich von einem solchen Blow-Out in Frank Schätzungs „Der Schwarm“, wie das Phänomen in der Wissenschaft genannt wird. Aber das hindert tausende Schiffe nicht daran, die Weltmeere zu durchpflügen.
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    Seid mutig und experimentiert… Wie so oft sind Zuversicht, ein ordentliches Stück Hoffnung – und letztlich eine gute selbsterfüllende Prophezeiung nie verkehrt.

    „Wenn wir unsere Wahrnehmung, unser Denken über die Welt verändern, verändern wir unsere Welt.“ schreibt das Zukunftsinstitut in ihrem Newsletter. Das gilt fürs Segeln ebenso wie fürs Experimentieren.

    Wir haben übrigens auch experimentiert und pünktlich zum 20. Geburtstag der ideenmanufaktur einen Podcast gestartet. Ich werde nun zusammen mit meinem Freund und Beraterkollegen Frank Breyer und hin und wieder einem Gast in regelmäßig unregelmäßigen Abständen einen Podcast aufnehmen rund um Liebe, Macht und Freiheit.

    In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß beim Ausprobieren. Leinen los fürs Experiment und immer ne handbreit Wasser unterm Kiel.

    Eure Jana