BlogbeitragTempo! Tempo? Geschwindigkeit an sich ist kein Wert – und hat keinen.

Tempo! Tempo? Geschwindigkeit an sich ist kein Wert – und hat keinen.
Ich gebe es offen zu. Direkt und unvermittelt. Ich bin selbst noch nicht da, wo ich geschwindigkeitsmäßig mit und in meiner Arbeit hinmöchte. Ich bin zu schnell. Für mich, meinen Akku, meine Gesundheit, mein Wohlbefinden und nicht zuletzt für meine Umwelt und Mitmenschen. Und ich bin nicht nur zu schnell. Ich arbeite auch Zuviel. Zumindest habe ich aber inzwischen das Wesentliche verstanden.

Ich schreibe in meinen Blogbeiträgen immer über Themen, die mir im Alltag, in meiner Arbeit, meinen Beratungen und Coachings begegnen. Diesmal schreibe ich sehr persönlich über das, was ich auch selbst erlebt habe und über die Gedanken, die mich umtreiben.

Bevor ich so richtig ins Thema Tempo und Geschwindigkeit einsteige, möchte ich kurz beschreiben, warum dieser Blogbeitrag es jetzt erst ans Tageslicht geschafft hat. Die Dinge hängen – wie so oft – zusammen. Gerade Tempo und Verspätung… ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
  • Lieber Wünsche als Vorsätze – intensiver, dafür weniger arbeiten

    Eigentlich mag ich keine Vorsätze fürs neue Jahr. Theoretisch ist mir klar, wofür sie da sind. Mir machen sie nur Druck. Ich formuliere eher Wünsche.
  • Tempo! Tempo? Geschwindigkeit an sich ist kein Wert – und hat keinen.: Bild 2
  • Mein wichtigster Wunsch an mich selbst für 2023 war tatsächlich, weniger zu arbeiten. Vielleicht sogar diese 4-Tage-Woche mal zu probieren. Ja, lacht nur. Aber nicht, weil ich grundsätzlich keine Lust mehr habe, zu arbeiten. Im Gegenteil. Noch nie in meinem Leben habe ich meine Arbeit mehr geliebt, fühle mich richtig, angekommen und wirksam. Ich möchte bewusst weniger arbeiten, weil meine Arbeit, meine Projekte und Prozesse intensiver und herausfordernder geworden sind und die Phasen der Verarbeitung zunehmen – oder mehr werden sollten. Dafür brauche ich mehr Pausen. Ich spüre die Verantwortung, die ich für Menschen, Teams und Unternehmen übernehme und übernehmen darf. Aber auch die Verantwortung für mich. Die Anforderungen und Erwartungen an mich und meine jeweilige Rolle sind immer komplex, vielschichtig, manchmal irritierend und vereinzelt scheinbar unlösbar. Aus reiner Fürsorge für mich brauche ich auch freie Zeiten, um die Aufgaben und Zusammenhänge zu erfassen, sacken lassen zu können, zu begreifen und zu verstehen. Auch zur Gewährleistung optimaler Vor- und Nachbereitungen brauche ich ausreichend Zeiten.
  • Mit Verspätung – aber genau richtig

    Jetzt sind die ersten drei Monate fast vorbei und ich komme nun erst dazu, meinen ersten Blogbeitrag in 2023 zu schreiben – statt wie eigentlich geplant Anfang Januar.
    Für den Blogbeitrag spielt es am Ende keine Rolle, wann er erscheint. Die Welt dreht sich einfach weiter. Meinen eigenen Anspruch kann ich an der Stelle auch vernachlässigen. Das Erscheinungsdatum macht einfach die Umstände sichtbar und veranlasst mich zur Reflektion.
  • New Work predigen und doch heimlich Sklave sein?

    Spannend ist eher, mal genau hinzuschauen, woher die Diskrepanz zwischen Wunsch, Anspruch, Vorbild sein zu wollen und Wirklichkeit kommt.
    Das Jahr begann mit einer Vielzahl spannender Projekte, Veranstaltungen, Moderationen und anderer Aufgaben. Statt weniger zu arbeiten, habe ich die ersten sechs Wochen komplett durchgearbeitet. Und das eher sehr zügig bis schnell. Ich war ein Hochleistungstierchen, habe nicht nur das Tempo erhöht, sondern auch die Tage verlängert. Die Kinder sind groß. Da geht das gut. Ich wollte alles. Kein entweder oder. Weil mich auch wirklich alles so gereizt hat und fürchterlich spannend war. Zugegeben waren es auch besondere Prozesse und zum Teil neue Lern- und Entwicklungsfelder für mich. Mir wurden komplizierte Themen, wichtige Aufgaben und neue Dinge zugetraut, sicherlich auch gemutet, aber mein Ego wurde auch ordentlich gebauchpinselt. Da kann ich schlecht Nein sagen.
  • Tempo! Tempo? Geschwindigkeit an sich ist kein Wert – und hat keinen.: Bild 6
  • So viel zu meinen guten Wünschen. Nachdem mein Körper mir deutlich signalisiert hat, dass ich meine Grenzen überschritten hatte, habe ich tatsächlich versucht, wenigstens an den Wochenenden freizumachen. Aber auch das fiel mir schwer. Schließlich mag ich das was ich tue, wirklich sehr, wenn vielleicht auch nicht jede Dokumentation oder Kalkulation. Aber auch das gehört schließlich dazu.
    Verrückt ist, dass mein Körper mir inzwischen deutlich signalisiert, wo meine Grenzen liegen und ich es dennoch oft nicht gut schaffe, vom Gaspedal zu gehen. Warum ist das so? Obwohl ich in der Theorie Spezialistin für diese Themen bin und ganze Teams und Unternehmen berate, wie neue Formen des Arbeiten gelebt werden können.
  • Finde den Fehler

    In Wirklichkeit habe ich die Dimensionen unterschätzt. Intensität erhöhen und gleichzeitig die Geschwindigkeit verdoppeln geht zulasten der eigenen Substanz. Während ich diesen Text schreibe, denke ich an die vielen Momente in meinen Beratungen, Workshops und Coachings, in denen ich von Selbstfürsorge, Selbstachtung, Selbstführung und sich-selbst-Erlaubnis-geben spreche und komme mir ein klein wenig vor wie eine Hochstaplerin, die anderen Dinge verkauft, die für sie selbst nicht gelten. Was natürlich Quatsch ist. Ich weiß es, ich fühle es. Ich kenne aber auch meine Schwäche, bei Herausforderungen, die mich reizen, mich und Grenzen zu vernachlässigen.

    Dabei kenne ich einige der wichtigen Erkenntnisse unserer Zeit, nicht zuletzt dank des wunderbaren Kollektivs der Neue Narrative:
    • Individuelle Leistung ist ein Mythos – Leistung ist immer Teamsport. Nicht Individuen lösen Probleme, sondern Teams. Der Beitrag eines Individuums wird meist überschätzt. Das darf ich mir auch immer wieder sagen.
    • Wer leistet, braucht Pausen. Unser Körper und unsere Psyche brauchen Pausen und Phasen der Regeneration. Nicht nur im Schlaf. Auch zwischendurch. So sind wir gebaut.
    • Unsere Gesellschaft ist besessen von Leistung, aber niemand weiß, was damit eigentlich gemeint ist. Die Vorstellung von individueller, objektiv messbarer Leistung gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Für unsere heutige, postindustrielle Welt braucht es neue Definitionen.
  • Wir brauchen Pausen und Entspannung. Wir! Alle! Und viel mehr davon!

    Wir leben in einer Zeit, in der nach wie vor erwartet wird, dass die Dinge laufen. Beruflich, privat, gesundheitlich – bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen, Alten, Kranken, Alleinerziehenden oder einfach den latent Erschöpften unserer Welt.

    Wenn es klemmt, wird erwartet, dass es Lösungen und Wege gibt. Dass Termine trotzdem eingehalten werden. Wenn viel zu tun ist, muss man eben einen Zahn zulegen, die Taktzahl erhöhen, die Pobacken zusammenkneifen. Dass das schon den Lohnsklaven in der Hochzeit des Frühkapitalismus und später den Fließbandarbeiter*innen nicht gut bekam, ist bekannt. Daraus gelernt haben wir als Gesellschaft nicht wirklich. Heute müssen wir einfach ne Runde mehr Yoga machen, öfter meditieren oder einfach den Alkohol weglassen. Wir glauben, wenn wir uns selbst optimieren, werden wir noch leistungsfähiger und können dem wachsenden Tempo folgen. Zu selten stellen wir die Frage: „Was kann im schlimmsten Falle passieren?“ Es ist eine meiner Lieblingsfragen. Meistens ist die Antwort darauf entlastend. Die vermuteten Katastrophen bleiben eher aus und dennoch gönnen wir uns keine Pausen.
  • Tempo! Tempo? Geschwindigkeit an sich ist kein Wert – und hat keinen.: Bild 10
  • Warum sind wir kollektiv so getrieben und wie kommen wir von unserem Tempo runter? Wie können wir miteinander dafür sorgen, vom Gas zu gehen und uns gegenseitig dabei unterstützen?

    Der immense Leistungsdruck, den unser hyperkapitalistisches Zeitalter erzeugt, drängt viele Menschen dazu, immer atemloser durchs Leben zu rauschen, um möglichst erfolgreich zu sein, was auch immer Erfolg für jeden Einzelnen bedeutet. Doch Leistung kann nicht dauerhaft aufrechterhalten werden, wenn wir nicht auch Phasen der Entspannung haben.
  • Beerdigung eines Glaubenssatzes

    Viele Jahre meines Lebens habe ich ernsthaft und ehrlich daran geglaubt, Geschwindigkeit und ein hohes Tempo per se wären ein Wert. Ich war stolz darauf, schnell im Denken, Verstehen, Reden, Antworten und Handeln zu sein. Je schneller ich wurde, umso besser gefiel ich mir. Ich war genervt von meiner Umwelt, wenn diese nicht mitkam, schaute vermutlich auch genervt mit einer sicher unangenehmen Arroganz und Herabwürdigung auf Menschen, wenn diese von meinem Tempo überfordert waren oder gar überrollt wurden. Wenn mir aus meinem Umfeld Ungeduld bescheinigt wurde, war ich eher stolz.
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  • Es hat etwa vierzig Jahre meines Lebens gedauert, bis ich ziemlich schmerzhaft begriffen habe, dass Tempo und eine hohe Geschwindigkeit nur die quantitative Seite der Medaille zeigen. Die qualitativen Anteile habe ich wirklich lange Zeit ausgeblendet. Dabei komme ich nicht mal aus einer Familie mit Renn-Tradition. Woher kommt dieser Hang zur Geschwindigkeit? Ich kann es mir nur erklären mit der Prägung durch gesellschaftlichen Spiegeleffekte. Wenn unser kollektiver Glaubenssatz ist, nur wenn wir schnell sind, sind wir erfolgreich, werden wir unser Tempo nicht reduzieren können.

    Nun hat es nochmal weitere zehn Jahre hat es nun gedauert, bis ich mich traue, einen Blogartikel über dieses Thema zu schreiben. Ziemlich lange Zeit für einen Menschen, der sich für schnelles Denken gefeiert hat… Aber Glaubenssätze sind hartnäckig und haben es in sich. Die Beerdigung ist ein erster Schritt und sicher ein wichtiger Teil der Lösung. Das Schließen der Akte Tempo braucht allerdings noch mehr. Aber was?
  • Slow Work – die Gegenbewegung

    Slow Work ist das Gegenkonzept zu unserer Affengeschwindigkeit in der wir arbeiten und richtet den Fokus auf eine langsamere Arbeitsweise. Das Konzept der Slow Work scheint zu anfangs kaum umsetzbar: Schließlich wollen Arbeitgeber und Kunden nicht lange auf Leistung warten, sondern alles jetzt, sofort und am besten bis gestern. Trotzdem erfreut sich Slow Work wachsender Beliebtheit, denn die langsame Arbeit bringt zahlreiche Vorteile.

    Slow Work ist eine Haltung und Möglichkeit unter Vielen, das eigene Denken, Handeln und Arbeiten zu hinterfragen. In meiner Welt und Erfahrung steht am Anfang immer die wichtige Frage: „Geht es mir gut, mit dem was ich mache, wie viel ich es mache und wie ich es mache?“ Wenn du das mit JA beantworten kannst, kann ich dir einfach gratulieren. Wenn nicht, dürfen die nächsten Fragen folgen, z.B. was du gern verändern möchtest, welche Unterstützung du dafür brauchst und von wem. Und das Thema mit der Erlaubnis spielt da rein. Dazu gibt’s aber schon einen Blogbeitrag.

    Für mich ist das Thema Geschwindigkeit reduzieren nach wie vor in der Bearbeitung. Sowohl in meinen Beratungen als auch für mich und bei mir selbst. Ich freue mich auf den weiteren Austausch, inspiriert zu werden und inspirieren zu können und wenn wir gemeinsam etwas langsamer werden können. Denn da bin ich mir sicher – das schaffen wir nur zusammen.

    In diesem Sinne, machts slow und halblang. Und passt gut auf euch auf!

    Eure Jane