BlogbeitragUnsere Tränen – Mysterium, Geschenk oder der genialste Schachzug der Evolution?

Unsere Tränen – Mysterium, Geschenk oder der genialste Schachzug der Evolution?
Tränen verbinden uns – alle Menschen weinen – von Geburt an. Weinen ist unsere älteste Strategie, für uns und unsere Bedürfnisse zu sorgen. Je nachdem wie erfolgreich wir damit waren, wie sehr und wie gut sich die ersten Menschen in unserem Leben um uns gekümmert haben, umso sicherer agieren wir in unserem gesamten Leben.
  • Als ich zum letzten Jahreswechsel überlegt habe, welche Themen und Blogbeiträge spannend sein könnten fürs kommende Jahr 2022, habe ich mit keinem Gedanken daran gedacht, dass wir zwei Monate später fassungslos auf die Bilder des Krieges in der Ukraine schauen, kollektiv so viele Tränen vergießen werden und dass das Thema TRÄNEN so schnell so brisant werden könnte. In Wirklichkeit und im übertragenen Sinne. Denn wir verwenden die Tränen oft als rhetorisches Bild. Das Tränenvergießen ist ein Bild großer Trauer, auch wenn bei manchen Menschen in echt keine einzige Träne rollte.
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    Fotos Quelle: @wildwuxx2.0
    Es gibt Zeiten und Momente, da sind wir nah am Wasser gebaut, in Tränen aufgelöst und zerfließen förmlich. Oft können wir nichts gegen sie tun. Unsere Tränen sind da und wollen raus. Geht es dir auch so? Je reicher dein eigener Erfahrungsschatz wird, desto mehr Situationen sorgen für feuchte Augen?
    Wer weinen kann, ist mitten in den eigenen Gefühlen, steht mitten im Leben, im eigenen Schmerz und auch im eigenen Glück. Unsere Tränen sind Geheimnis, Geheimwaffe, Chemie, Kommunikation oder Manipulation.
  • Tränen werden uns in die Wiege gelegt

    Ähnlich wie Lachen zählt Weinen zu den archetypischen menschlichen Ausdrucksbewegungen, die nicht erlernt werden. Doch wird die Äußerung als Sozialverhalten durch situations- und geschlechtsspezifische Rollenerwartungen kulturell verschieden normiert. Ob bei Tieren – wie beispielsweise bei unter Stress stehenden Elefanten, die Tränen produzieren – von einem Weinen wie beim Menschen gesprochen werden kann, ist in der Wissenschaft umstritten. de.wikipedia.org/wiki/Weinen
  • Tränen sind nicht gleich Tränen

    Wir weinen nicht nur wenn wir traurig sind. Als Babies drücken wir mit Weinen unsere Gefühle aus, bevor wir sie in Worte fassen können. Wir weinen aus Schmerz, Angst, vor Sehnsucht, aus Erleichterung, Freude, Stolz und Rührung, vor Wut, aus Hilflosigkeit, Enttäuschung und Überforderung. Und wir weinen aus Mitgefühl für andere und manchmal für uns selbst.
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  • Tränen machen uns einzigartig

    Als einziges Lebewesen muss der Mensch mitunter aus emotionalen Gründen weinen, mal aus Überforderung oder Wut, mal aus Trauer oder Rührung.

    Und doch ist dieses Phänomen immer noch rätselhaft: Entlasten wir uns selbst, wenn wir Tränen vergießen? Oder tun wir es insgeheim, um andere zu bewegen, für uns zu sorgen?
  • Was ist eine Träne in Wirklichkeit?

    Die Träne ist eine salzige Körperflüssigkeit, die das Auge von Menschen und Säugetieren ständig absondert. Etwa 40 Badewannen voll Tränen werden pro Tag in Deutschland geweint. Das hat jemand ausgerechnet, der es ganz genau wissen wollte. Und dass auf einen Liter Tränenflüssigkeit 66 000 Tränen kommen, das hat er auch berechnet. 184 800 000 Tränen in dieser Badewanne, die da geweint werden jeden Tag in Deutschland.
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  • Beim Menschen werden die Tränen von den Tränendrüsen, die beidseitig in der oberen äußeren Ecke der Augenhöhle liegen, produziert. Sie halten in Form des Tränenfilms ständig die vordere Augapfelfläche feucht und schützen somit vor Austrocknung. Die Tränenflüssigkeit enthält keimtötende Stoffe und schützt die Augenoberfläche vor kleinen Fremdkörpern, indem sie durch Lidschlag weggewischt werden können. Das Tränensekret besteht aus einer wässrigen Phase und einer Lipidphase. Störungen in der Zusammensetzung führen zum trockenen Auge. Eine menschliche Träne wiegt ca. 15 Milligramm. Der Mensch gilt als einziges Lebewesen der Erde, der emotional bedingt weint.
  • Was wissen wir sonst noch über unsere Tränen?

    Fühlen wir uns tatsächlich besser, nachdem wir uns ordentlich ausgeweint haben? Tun wir uns mit dem Weinen gar etwas Gutes? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Punkt. Denn unklar ist auch: warum vergießt der Mensch – und nur der Mensch – überhaupt emotionale Tränen? Tut er es, um überwältigende Gefühle zu regulieren? Oder ist das salzige Sekret eher ein Signal an die Mitmenschen, ein stummer Schrei nach Trost und Unterstützung? Der Studienbedarf ist groß, die Faktenlage dünn. Denn die Wissenschaft behandelte das Weinen lange Zeit stiefmütterlich. Die Psychologie interessierte sich eher für die zugrundeliegenden Gefühle als für ihre schnoddrige Manifestation.
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  • Ein Tränenforscher auf Entdeckungsreise

    Einer der das ändern will, ist der niederländische Psychologe Ad Vingerhoets. Er ist Tränenforscher und der Großmeister der Tränen, Forscher und Autor des Buches „Why only human weep“.

    Regelmäßig lädt Vingerhoets Probandinnen und Probanden in sein Labor an der Universität Tilburg ein, um ihre Reaktion auf traurige Filme festzuhalten. Seine Videothek der Tränen umfasst das Bewegendste, was die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Die emotionalen Tränen, die Vingerhoets Testpersonen im Dienste der Forschung vergießen, fließen besonders reichlich.
     
    Bis zu 400 Milliliter Mikroliter (Tausendstel eines Milliliters) produzieren wir beim hemmungslosen Schluchzen pro Minute.

    Weit sparsamer ist der Körper bei basalen Tränen. Sie enthalten Schleim und Öle, die ein Austrocknen der Hornhaut verhindern, dazu Proteine, die Bakterien angreifen und Substanzen, die die Heilung fördern. 1 bis 2 Mikroliter sondern unsere Tränendrüsen in jeder wachen Minute ab. Sogenannte Reflex Tränen wiederum vergießen wir bei Irritationen, etwa wenn uns ein Insekt ins Auge fliegt oder wir Zwiebeln schneiden. Sie spülen Fremdkörper und ätzende Substanzen weg, das zumindest gibt es auch bei anderen Lebewesen.

    Der jeweilige Auslöser der Tränen könnte die Zusammensetzung unserer Tränen beeinflussen. Die meistzitierte Untersuchung dazu stammt aus dem Jahre 1981. Der Biochemiker William H. Frey II stellte fest, dass etwa der Proteingehalt emotionaler Tränen um ein Viertel höher lag als der von Reflex-Tränen. Frey vermutete, dass emotionale Tränen Substanzen ausspülen, die sich bei Stress im Körper anreichern.

    Eine kleinere Studie der Universität Zürich zeigte, dass der Gehalt von Serotonin – einem Botenstoff – der unter anderem mit Schmerzwahrnehmungen in Verbindung gebracht wird, bei emotionalen Tränen höher war, als bei den Reflex-Tränen. Das spräche ebenfalls dafür, dass Weinen uns tatsächlich hilft, körperliche Anspannung abzubauen und ein physiologisches Gleichgewicht wiederzuerlangen.

    Weitere Studien konnten dies bisher nicht bestätigen. Es gibt dabei eine Reihe, methodologischer Schwierigkeiten. Ein Problem ist, dass die Konzentration von Botenstoffen bei jedem Menschen je nach Tag und Uhrzeit variiert. Auch Alter, Fitness und Gesundheitszustand haben Einfluss auf unseren Tränen Cocktail.

    Auch international tut sich einiges. Um die Wissenschaft des Weinens voranzutreiben, plante der Neurobiologe und Geruchsforscher Noam Sobel vom Weizmann Institute of Science in Israel eine Tränenbiobank einzurichten. Wer zu Forschungszwecken Tränen braucht, sollte sie dort per Post ordern können so wollte die unterschätzte Körperflüssigkeit, übrigens die einzige vor der wir uns nicht ekeln, sammeln und mit flüssigem Stickstoff Blitz gefrieren um ihre chemische Zusammensetzung zu erhalten. Noch ist der Plan aber nicht umgesetzt, so bleibt die genaue Rezeptur der Tränen vorerst ein Rätsel.

    Quelle: Geo Wissen Ausgabe 74
  • Was passiert, wenn wir nicht weinen?

    In manchen Situationen wollen wir nicht weinen, manche Menschen können aber auch nicht weinen. Zumindest nicht emotional weinen.

    Die ungeweinten Tränen liegen schwer im Magen, machen Kopfweh oder verursachen Depressionen. Wer seine Tränen hinunterschluckt, tut sich selbst nichts Gutes. Ein guter Rat, den mittlerweile schon die Krankenkassen als Gesundheitstipp kommunizieren.
  • Tränen im Job

    Tränen sind nach wie vor ein Politikum. Tränen sind Zeitgeist. Sie sind so viel mehr als ein bisschen Wasser und Salz, sie verbinden uns oder sie spalten.
    Frauen wie Männer, die nah am Wasser gebaut sind, werden – gerade in beruflichen Kontexten – immer noch in einigen Kreisen als „Heulsuse“ bezeichnet. Führungskräfte, die offen vor ihren Mitarbeitenden weinen, werden immer noch als emotional und schwach angesehen. Umgekehrt fallen viele Führungskräfte, wenn Mitarbeitende in Tränen ausbrechen, in eine Art Schockstarre.

    Ich erlebe Menschen in emotionalen und tränenreichen Situationen irritiert, auch peinlich berührt, oft hilflos. Wir haben offenbar gemeinschaftlich keinen gesunden Umgang mit Tränen gelernt.
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  • Konflikte oder Machtkämpfe auszufechten, wurde meist schon trainiert, in Fortbildungen behandelt, es gibt unzählige Bücher über die Psychologie des Führens. Tränen sind in den Ausbildungen und in der Literatur nur wenige Kapitel oder Seiten gewidmet.

    Auch hier gilt die grundsätzliche Haltung guter Führung: einen sicheren Raum aufmachen, diesen halten, in erster Linie bei sich selbst bleiben und Ruhe bewahren. Und natürlich zuhören, ausreden lassen, Zeit geben, keinen Druck machen, nicht auf Erklärungen bestehen, zurückhaltend mit Lösungen sein, offen und aufmerksam sein.
  • Mut zur Träne – erlauben wir uns doch das, was wir brauchen

    Wenn mir zum Heulen zu Mute ist, dann brauche ich weder die Ansage, dass meine Tränen unpassend sind, die Übergriffigkeit, dass ich unprofessionell oder unpässlich sei und auch nicht den guten Rat, dass Weinen so gesund sei und ich alles raus lassen soll.

    Ich brauche jemanden, der mitfühlt, dem meine Tränen nicht peinlich sind. Jemand, bei dem ich mich sicher, angenommen und verbunden fühlen darf und bei dem ich weinen und mich ausheulen kann.
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  • Mich berührt, wenn zunehmend Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, sich ihre Gefühle und Tränen erlauben, denn sie sind Vorbilder für uns alle. Bewusst oder unbewusst, wird es etwas verändern.

    Wie Robert Habeck im Gespräch mit Sandra Maischberger, wohlgemerkt am Abend vor der ersten Kriegsnacht www.daserste.de/information/talk/maischberger/videos/habeck-106. Wie die Dolmetscherin, der bei der Übersetzung der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die Stimme versagt www.youtube.com/watch?v=04KzWbTtPsc ca. 1:16.

    Keine zwei Wochen ist es her, dass das große russische Eiskunstlauf-Talent Kamila Valieva unter dem großen Druck von Olympia 2022 zerbrach. Die ehemalige deutsche Eiskunstläuferin Katharina Witt musste das tragische Drama bei Olympia 2022 live mit ansehen. Es brachte die Sportschau-Expertin vor laufender Kamera plötzlich zum Weinen.

    Manchmal hilft vielleicht auch einfach lachen, wenn man kann. Das lehren uns die Karnevalisten, die es auf den Punkt gebracht haben: „Tränen, die man lacht, kann man nicht weinen“.

    Es kann so einfach sein: Am Ende sind wir alle Menschen. Vereint in unseren vererbten, archaischen Mechanismen, die wir uns nicht ausgesucht haben, mit unseren Glaubenssätzen, die keinen Heller wert sind (Indianer kennt keinen Schmerz, Männer weinen nicht, sie ist immer so emotional) und mit unseren Nöten und Peinlichkeiten, die nicht sein müssen. 

    Denn wenn wir weinen, gibt es immer einen Grund und Anlass. Auch wenn der von außen klein oder nicht erkennbar ist. Wir haben nicht das Recht, das zu bewerten – oder sogar abzuwerten.
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  • Wenn wir traurig, ängstlich, erschüttert, aus unserer Komfortzone geworfen sind, vor uns hin schluchzen und weinen bis der Arzt kommt, brauchen wir eine Umarmung, eine Hand auf der Schulter, eine Geste des Mitgefühls. Es ist in Ordnung, wenn wir hilflos sind. Wir können fragen, ob wir etwas tun können, ob unser verweintes Gegenüber etwas braucht. Allein die Frage füllt oft schon viel im leergeweinten Speicher wieder auf.

    Wenn nun in diesen Tagen des Krieges wieder mehr geweint wird, nehmt eure Mitmenschen in den Arm, fühlt mit, weint mit, geht in Verbindung und schenkt euch Trost. (Und wenn ihr könnt, weint und kümmert euch auch um die Menschen in nah und fern, die in diesen Tagen auch vergessen werden.)

    Ich bin mir sicher, dass Weinen nicht unsere Probleme lösen wird, aber gemeinsam können wir sie vielleicht leichter ertragen und angehen. Liebe ist einfach immer die Antwort. Immer.

    In Liebe – eure Jana.