BlogbeitragWarum entscheiden wir uns so oft für die Verletzung?

Warum entscheiden wir uns so oft für die Verletzung?
Es gibt diese Momente im Arbeitsalltag, die mir immer wieder begegnen – sei es in Coachings, in Workshops oder in Führungskräfterunden. Klient:innen berichten mir von Situationen, die binnen Sekunden zu Konflikten werden. Oft verbunden mit dem Schmerz und der Hoffnung, ob es denn nicht anders ginge: Jemand sagt etwas, das eigentlich eine sachliche Information sein könnte – und sofort liegt Spannung im Raum. Statt Klarheit entsteht ein Gefühl der Verletzung. Aus einem Hinweis auf Verbesserung wird ein Vorwurf, aus einer Nachfrage ein Angriff.
  • Ich beobachte dann, wie Menschen sich zurückziehen, beleidigt reagieren oder in den Widerstand gehen. Andere wiederum werden laut, wütend oder frieren innerlich ein. Handlungsfähig ist in diesem Moment kaum jemand. Ich frage mich dann: Warum entscheiden wir uns so oft für die Verletzung – obwohl wir doch auch andere Möglichkeiten hätten?
  • Vorwürfe statt Bedürfnisse

    Ein Schlüssel liegt darin, dass wir unsere Bedürfnisse selten direkt ausdrücken. 

    Statt zu sagen: „Ich wünsche mir mehr Klarheit über deine Entscheidung“, hören wir: „Du erklärst das nie richtig!“ Der erste Satz benennt ein Bedürfnis, der zweite einen Vorwurf.

    Aus dem Satz: „Ich hätte mir gewünscht, vorher gefragt und eingeladen zu werden.“ hören wir oft nicht zuerst das Bedürfnis nach Wertschätzung und Gesehen werden heraus, sondern den Vorwurf „Du denkst nicht an mich und beziehst mich nie vorher ein.“

    Im beruflichen Alltag – besonders in hierarchischen Strukturen – sind Vorwürfe viel häufiger. Sie werden als Schutz genutzt: Wer Vorwürfe macht, zeigt nicht seine eigene Verletzlichkeit. Doch die Folge ist, dass beim Gegenüber sofort Abwehr entsteht. Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, hat diesen Mechanismus eindrücklich beschrieben: Hinter jedem Vorwurf steckt ein unerfülltes Bedürfnis – aber das wird meist nicht gesehen.
  • Warum entscheiden wir uns so oft für die Verletzung?: Bild 3
  • Das Gehirn im Alarmmodus

    Die Hirnforschung liefert spannende Antworten darauf, warum uns Verletzung so oft „passiert“. Unser emotionales Zentrum, die Amygdala, reagiert blitzschnell auf potenzielle Bedrohungen. Sie ist darauf programmiert, uns zu schützen – und zwar schon lange, bevor unser rationales Denken im präfrontalen Cortex überhaupt eine Chance hat, die Situation einzuordnen.

    Studien zeigen, wie stark Emotionen unsere Wahrnehmung prägen: Wenn wir Kritik hören, verarbeitet das Gehirn diese zunächst wie einen Angriff auf unsere soziale Zugehörigkeit (Eisenberger & Lieberman, 2004). Das erklärt, warum ein Nebensatz im Meeting sich anfühlen kann wie eine existenzielle Bedrohung.

    Besonders interessant ist eine Untersuchung von Matthew Lieberman und Kollegen (2007). Sie konnten nachweisen, dass das Benennen von Gefühlen („Ich bin gerade verärgert“) die Aktivität in der Amygdala reduziert und gleichzeitig den präfrontalen Cortex aktiviert. Mit anderen Worten: Wenn wir Gefühle in Worte fassen, verschiebt sich unser Gehirn aus dem Alarmmodus in den Denkmodus.
  • Unsere Emotionen blockieren die Wahl

    Theoretisch wissen wir: Wir haben immer mehrere Reaktionsmöglichkeiten. Wir könnten nachfragen, deeskalieren, eine Pause machen. Doch in der Praxis erleben wir etwas anderes: Die Emotion schiebt sich vor die Einsicht.

    James Gross, einer der führenden Forscher zur Emotionsregulation, beschreibt (2015), das spontane emotionale Reaktionen wie Ärger oder Kränkung in Millisekunden ablaufen – viel schneller, als wir bewusst gegensteuern können. Erst wenn wir uns Strategien angewöhnt haben (z.B. tief durchatmen, einen Gedanken reframen = bewusst umdeuten), gewinnen wir Handlungsspielräume zurück.
  • Ich erlebe das oft in meinen Beratungen:
    Führungskräfte sagen mir, sie wissen eigentlich, dass die Kritik nicht persönlich gemeint war – und trotzdem waren sie gekränkt und haben impulsiv reagiert. Diese Diskrepanz zwischen kognitivem Wissen und emotionalem Erleben ist menschlich – aber sie macht uns in Konflikten so anfällig.
  • Organisationale Muster verstärken die Dynamik

    Es wäre einfach, das Ganze als individuelles Problem abzutun. Doch Organisationen (Unternehmen, Teams oder Gruppen) selbst verstärken oft diese Dynamik. In vielen Unternehmen ist eine „Fehlerkultur“ zwar offiziell gewünscht, faktisch dominiert aber noch immer das Prinzip Schuldzuweisung. Wer einen Fehler macht, fürchtet, dafür bloßgestellt zu werden.

    Die Harvard-Professorin Amy Edmondson hat dazu den Begriff der psychological safety geprägt. Ihre Studien (u.a. Edmondson, 1999) zeigen: Teams, die ein Klima psychologischer Sicherheit schaffen – in dem man Fehler eingestehen darf, ohne Angst vor Bestrafung und langfristiger Stigmata – sind nicht nur zufriedener, sondern auch deutlich innovativer. Umgekehrt gilt: Wo Menschen sich ständig gegen Verletzung schützen müssen, herrscht weniger Kreativität, weniger Offenheit und mehr innere Kündigung.
  • Optionen statt Automatismen

    Wenn wir uns also fragen, warum wir so oft die „Verletzungs-Option“ wählen, dann liegt die Antwort in einer Mischung aus Biologie und Kultur: Unser Gehirn reagiert reflexhaft, und die Organisation verstärkt den Reflex, weil eine oder mehrer negative Erfahrungen unser Vertrauen in uns selbst erschüttern können und Ängste verstärken. Das führt wiederum dazu, dass wir nicht in unsere Kraft und Energie kommen, weil unser Hirn blockiert ist, um Sicherheit herzustellen.

    Die gute Nachricht ist - wir müssen dem nicht hilflos ausgeliefert sein. Wir können trainieren, und Wahlmöglichkeiten bewusst zu machen:
    • Innehalten, sich Zeit nehmen, um Zeit bitten: Ein kurzer Moment der Stille reicht oft, damit der präfrontale Cortex nachkommt.
    • Bewusst machen, dass wir unsere Realität verändern können: Sich nicht sofort selbst glauben, was man fühlt.
    • Gefühle benennen:„Das macht mich gerade unsicher“ – allein das Aussprechen verändert die Hirnaktivität.
    • Nachfragen statt abwehren: „Kannst du mir erklären, was genau du meinst?“
    • Bedürfnisse sichtbar machen: Statt „Du bist immer unklar“ lieber „Ich brauche mehr Informationen, um sicher entscheiden zu können.“
    Kleine, einfache Übungen – und dennoch hoch wirksam, wenn sie regelmäßig angewandt werden.
  • Warum entscheiden wir uns so oft für die Verletzung?: Bild 9
  • Der Raum zwischen Reiz und Reaktion als persönliche Erfahrung

    Auch ich kenne die Falle der schnellen Verletzung. Obwohl ich seit vielen Jahren mit Mechanismen und dem Wissen vertraut bin, ertappe auch ich mich in Gesprächen dabei, sofort innerlich in den Verteidigungsmodus zu gehen. Der Unterschied nach Jahren des Trainings ist: Ich habe gelernt, es wahrzunehmen.
  • „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ 
    Victor Frankl
  • Manchmal gelingt es mir, die berühmte „Pause zwischen Reiz und Reaktion“ (Viktor Frankl) bewusst einzubauen. Dann spüre ich, dass ich nicht ausgeliefert bin. Ich kann verletzt reagieren – ich muss es aber nicht.

    Dieses Bewusstsein verändert die Qualität meiner Arbeit enorm – und es verändert Beziehungen. Denn sobald ich mich nicht mehr automatisch verletzt fühle, entsteht Raum für echte Begegnung.
  • Fazit: Verletzung ist eine Möglichkeit – aber nicht die Einzige.

    Wir werden Verletzungen nicht völlig vermeiden können. Sie gehören zum Menschsein. Aber wir können lernen, uns nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Jede Führungskraft, jeder Mitarbeitende hat die Möglichkeit, sich bewusst für eine andere Reaktion zu entscheiden – auch wenn es manchmal Übung braucht.

    Die gute Nachricht: Neurowissenschaft und Organisationsforschung sind sich einig – diese Fähigkeit ist trainierbar. Und sie ist ein Schlüssel, um in einer komplexen Arbeitswelt handlungsfähig, reflektiert und erwachsen zu bleiben.

    Einladung zur Veränderung
    Mich begeistert immer wieder, wie sich die Atmosphäre in Teams und Organisationen verändert, wenn Menschen anfangen, ihre eigenen Reaktionsmuster bewusster wahrzunehmen. Verletzung ist nicht das Ende einer Begegnung – sie kann der Anfang von mehr Klarheit, Tiefe und Miteinander sein.

    Stell dir vor, wie es wäre, wenn in deinem Unternehmen Vorwürfe häufiger in Bedürfnisse übersetzt würden, wenn Feedback als Chance verstanden würde und wenn Teams gelernt hätten, den Raum zwischen Reiz und Reaktion konstruktiv zu nutzen. Wie viel Energie, Kreativität und Freude wäre dadurch frei?

    Genau an diesem Punkt setze ich in meiner Arbeit an. Ob im Coaching, in Trainings oder in der Teamentwicklung: Es geht darum, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen – und damit die Grundlage für eine gesunde, erfolgreiche Zusammenarbeit zu schaffen.

    Wenn du Lust hast, mit mir und uns über diese Themen ins Gespräch zu kommen, freue ich mich über deine Nachricht. Gemeinsam können wir erkunden, wie du und dein Team mehr Wahlmöglichkeiten entdecken – und so den Raum für echte Weiterentwicklung öffnen.

    Eure Jana

  • Quellen (Auswahl)
    • Eisenberger, N. I., & Lieberman, M. D. (2004). Why rejection hurts: A common neural alarm system for physical and social pain. Trends in Cognitive Sciences, 8 (7).
    • Lieberman, M. D. et al. (2007). Putting feelings into words: Affect labeling disrupts amygdala activity in response to affective stimuli. Psychological Science, 18( 5).
    • Gross, J. J. (2015). Emotion regulation: Current status and future prospects. Psychological Inquiry, 26 (1).
    • Edmondson, A. (1999). Psychological safety and learning behavior in work teams. Administrative Science Quarterly, 44 (2).
    • Rosenberg, M. B. (2003). Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens.