BlogbeitragWie gerecht ist Gerechtigkeit?

Wie gerecht ist Gerechtigkeit?
Welche Rolle spielt Gerechtigkeit in unserer Arbeitswelt und was können wir daraus lernen?
  • Am Thema Gerechtigkeit kommt gerade niemand so richtig vorbei. Genau genommen meine ich Impfgerechtigkeit, politische Konflikte, Verteilungskämpfe. Es hat mich nachdenklich gemacht, da Gerechtigkeit offenbar einen sensiblen Nerv trifft – bei uns allen. Alle haben etwas beizutragen oder zumindest eine Meinung oder ein Gefühl. Da ich in diesem Blog eher auf unsere Arbeitswelt schaue, möchte ich wissen, woher Gerechtigkeit eigentlich kommt, wie gerecht wir unsere Arbeitswelt wahrnehmen und wie individuell wir Gerechtigkeit erleben.

    Gerechtigkeit ist in meiner Erinnerung ein sehr alter Wert und reicht zurück in meine frühen Kindheitstage, wenn es darum ging, wer wie viele Süßigkeiten bekam oder wer wann ins Bett musste.

    Wie sehr ist Gerechtigkeit in uns verankert? Lernen wir durch Vorbilder oder ist der Sinn oder das Gefühl für Gerechtigkeit vererbbar?
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  • Was ist Gerechtigkeit eigentlich? Ein Recht, ein Wert, ein Gefühl, etwas, das uns zusteht? Wir geht

    Gerechtigkeit ist für uns alle etwas Anderes – und dennoch verbindet uns der tiefe Wunsch, gerecht behandelt zu werden – nach einer gerechten Welt. Vermutlich reagieren wir deshalb auch so emotional. Wir möchten im Gleichgewicht sein mit unseren Freunden, Familie und unserem Umfeld, damit es uns gut geht.

    Ich beobachte bei mir selbst, wie groß die emotionalen Amplituden werden, wenn ich selbst Ungerechtigkeit erlebe. Unabhängig ob bei mir selbst oder bei anderen. Ich kann besonders Ungerechtigkeit körperlich genau spüren. Es macht mich einerseits hilflos, nimmt mir die Luft, verschafft mir Knoten im Bauch und manchmal kommt eine Wut hoch, die ich von mir nur selten kenne und die mich andererseits in den „Machen-Modus“ versetzt. Es fühlt sich jedes Mal auch fremd oder ein bisschen fremdgesteuert an. Wut scheint ohnehin ein vernachlässigtes, wichtiges Thema zu sein… aber dazu schreib ich, wenn ich mal so richtig wütend bin.
  • Ist Gerechtigkeit überall gleich auf der Welt?

    Das Netz spuckt zur Gerechtigkeit als erstes dazu aus:

    „Prinzip eines staatlichen oder gesellschaftlichen Verhaltens, das jedem gleichermaßen sein Recht gewährt.“

    Ist es das? Alt und dennoch aktuell: eine prägnante Definition liefert der römische Jurist Ulpian (170–228 n. Chr.):

    „Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen“.

    Gerechtigkeit regelt die Beziehungen von Menschen zu anderen Menschen, sie betrifft also Interaktionen, und sie enthält immer ein Moment von Gleichheit. Gerechtigkeit wird als idealer Zustand des sozialen Miteinanders angesehen. Gerechtigkeit ist ebenso ein angemessener Ausgleich von Interessen, Chancen oder Gütern. Gerechtigkeit ist keinesfalls ein Recht, sondern eine individuelle Erwartung, die ohne Abgleich oder Austausch oft zu Enttäuschungen führt. Ein Recht ist eine vorgegebene und festgeschriebene Verordnung, wie ein Verhalten geregelt ist. Zum Beispiel die Rechte eines Bürgers. Gerechtigkeit ist eher ein Gefühl, das individuell empfunden wird.
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  • In Deutschland ist Vieles bereits geregelt. Wir haben eine Verfassung, Gesetze und können weitestgehend darauf vertrauen, Recht zu bekommen – auch wenn die Urteile nicht immer als gerecht empfunden werden. Deutschland ist von einem hohen Maß an sozialer Gerechtigkeit geprägt. Im weltweiten Maßstab! Fakten gibt es hier arbeitgeber.de/themen/wirtschaft-gesellschaft/soziale-gerechtigkeit

    Das kollektive Gefühl der Menschen ist meist ein anderes. Aber warum?
  • Seit wann gibt es eigentlich Gerechtigkeit?

    Spannend finde ich nochmal den Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung des Begriffes. Zeigt es doch, welch hohe Stellung und tiefe Verwurzelung es in allen Kulturen gibt.

    „Der Begriff der Gerechtigkeit bezeichnet seit der griechischen antiken Philosophie die höchste menschliche Tugend. Gerechtigkeit ist nach dieser klassischen Auffassung ein Maßstab für ein individuelles menschliches Verhalten. Die Grundbedingung dafür, dass ein menschliches Verhalten als gerecht gilt, ist, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird. Wobei in dieser Grunddefinition offen bleibt, nach welchen Wertmaßstäben zwei Einzelfälle als zueinander gleich oder ungleich zu gelten haben. Im Mittelalter setzte sich die Auffassung durch, wonach Gerechtigkeit keine menschliche, sondern eine göttliche Größe sei.“ (Gekürzt de.wikipedia.org/wiki/Gerechtigkeit)

    Wer noch ein wenig intensiver einsteigen möchte, sich mit vertikaler und horizontaler Gerechtigkeit auseinandersetzen will, kann hier nochmal nachlesen: wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/gerechtigkeit-34985

    ​Danach kamen neben Kant noch diverse Philosophen und Revolutionen, die unser Verständnis von Gerechtigkeit nachhaltig geprägt haben. Aktuell zu erwähnen ist vielleicht eher, dass durch die Globalisierung und weltumspannenden Themen die Fragen nach einer gerechten Weltordnung in den Fokus rücken.
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  • Erleben wir Gerechtigkeit gleich soziale Gerechtigkeit?Mit dieser Frage kam gleichzeitig eine weiter

    Mit dieser Frage kam gleichzeitig eine weitere Frage in mir hoch, nämlich ob es eine Gerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit überhaupt geben kann. Ich selbst merke immer wieder, wie sehr bestehende Umstände verankert sind, wie sehr ich sie als gesetzt ansehe und wie wenig ich sie hinterfrage. Zum Beispiel: müssen ältere Menschen mehr verdienen als junge Menschen? Warum verdient man in der Pflege weniger als in der Finanzwirtschaft oder auch als Lehrer*in? Ist es gerecht, dass Frauen aktuell pro Jahr 19 % weniger verdienen als Männer? Verdienen Akademiker*innen mehr Geld als Fachschul-Absolvent*innen im Sinne des wert seins? Und warum ist es egal, wie groß eine Klasse ist, in welchem Alter die Schüler*innen sind, wie hoch der Stress- und Erziehungsfaktor ist und welches Fachwissen benötigt wird, wenn man sich die Entlohnung von Lehrer*innen anschaut? Käme eine Neuverteilung in Frage?
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  • Die Fragen der Vergütung und Lohngerechtigkeit sind eng mit sozialer Gerechtigkeit verbunden. Nach wie vor sind die Kriterien dafür: Markt, Leistung, Situation, Aufwand und Bedarf. Kriterien, die die Sicht und Bedürfnisse der Menschen mit einbeziehen, haben Gewerkschaften im letzten Jahrhundert mit ins Rennen geschickt. In einigen Branchen hat in den letzten Jahren der zunehmende Fachkräftemangel zwangsweise dafür gesorgt, die Kriterien zu verändern. Dennoch ist die Produktivität einer Branche immer noch ausschlaggebend für die Entlohnung der einzelnen Arbeitnehmer*innen. Bemühungen, den Menschen als Ganzes zu sehen, die individuelle Lebenssituation und auch umfängliche Lebens-Leistung einzubeziehen spiegelt sich im „Gender Care Gap“ wider. Das meint vor allem Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit und Ehrenämter. Frauen wenden pro Tag im Durchschnitt 52,4% mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Wahnsinn, dass Frauen trotz der Doppel- und Dreifachbelastungen im Schnitt älter werden als Männer. Dieser Unterschied wird als „Gender Care Gap“ bezeichnet. Mehr Infos auch für Arbeitgeber*innen gibt es hier: www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap
  • Welche Rolle spielt nun Gerechtigkeit bei der Arbeit?

    Wenn so viele Menschen beim Thema Gerechtigkeit hellhörig, emotional, laut oder leise werden, wie steht es um Gerechtigkeit in unserem beruflichen Alltag? Welche Rolle spielt Gerechtigkeit in Unternehmen, in Teams, zwischen Kolleg*innen, zwischen Hierarchiestufen – einfach bei der Arbeit?
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  • Der erste Impuls geht bei einer ersten, nicht repräsentativen, Umfrage im Freundeskreis in zwei Richtungen: Vergütung und Chancen. Wer erhält welche Chancen und warum? Gehalt und Gehaltserhöhungen zu verhandeln, ist nach wie vor gängige Praxis in der Arbeitswelt. Dabei kommt es oft mehr auf das Verhandlungsgeschick der/des Einzelnen an, weniger auf Leistung oder Können. Die Folge sind Gehaltsunterschiede bei gleicher Arbeit und somit eine ungerechte Verteilung. Aber auch geschlechtsspezifische Unterschiede spielen nach wie vor eine große Rolle.

    Der wesentlich schwierigere Punkt sind die unterschiedlichen Chancen. Junge, gutausgebildete, kinderlose Menschen haben Zeit, Kraft und die Chance, viel arbeiten zu können. Sie verdienen entsprechend viel.

    Menschen, die weniger Glück hatten im Leben haben, keine stabile physische oder psychische Gesundheit mitbringen, Kinder oder Angehörige haben, um die sie sich kümmern müssen, haben per se weniger Zeit, Kraft und die Chance so viel arbeiten zu können, um sich selbst und die Angehörigen zu versorgen und auch so viel beiseitezulegen, um der Altersarmut zu entgehen.

    Wie gerecht ist dieser Umstand und für wen? Darauf gibt es sicher keine einfache Antwort. Allein das konsequente Sichtbarmachen von Ungerechtigkeiten führt noch nicht zwingend zu Veränderungen – aber es ist ein Anfang.

    Die Weltbank bemängelt in ihrer Studie „Woman Business and the Law 2020“ in Deutschland vor allem die Ungleichheit beim Einkommen von Männern und Frauen und die Situation der Kinderbetreuung. So landete Deutschland auch nur auf Platz 31. Auch der Zugang zu Arbeit ist in Deutschland nicht für alle gleich. Bewerben sich Menschen mit Migrationshintergrund auf Stellen, werden sie trotz gleicher oder sogar besserer Qualifikation seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Arbeitsbedingungen, die Behandlung und Bezahlung wird in Folge als ungerecht empfunden und widerspricht dem Prinzip der Gleichbehandlung. Quelle: www.dearemployee.de/so-geht-gerechtigkeit-im-betrieb

    Wirtschaft ist auch wissenschaftlich und heißt dann Ökonomie. Sie ist eine selbstständige, von der Philosophie getrennte Wissenschaft. Ökonomie hat die Frage nach Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne ausgeblendet. Für uns als Menschen hat Gerechtigkeit in der Wirtschaft und im Betrieb durchaus eine entscheidende Relevanz. Sie bestimmt zum Beispiel, wie zufrieden, innovativ, krank oder gesund wir sind, wie lange wir einem Unternehmen treu verbunden bleiben und es weiterempfehlen als Arbeitgeber*in.
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  • Was können wir alle tun, um mehr Gerechtigkeit für uns alle im beruflichen Alltag zu schafen?

    Damit es noch ein bisschen konkret wird, habe ich mal die wichtigsten Maßnahmen für mehr und schnelle Gerechtigkeit, zumindest in Unternehmen recherchiert und zusammengestellt:
    • Faire und gerechte Entlohnung
    • Wertschätzung der Angestellten und deren Arbeit
    • Faire Arbeitsbedingungen (mobiles Arbeiten, Vertrauensarbeitszeit, etc.) mit flexiblen, individuellen Anpassungen
    • Werte und ethische Grundsätze entwickeln und leben, Compliance
    • Respektvoller Umgang untereinander, Diversität und Inklusion leben
    • Rotierende Gleichstellungs- oder Wertebeauftragte
    • Mitspracherechte oder zumindest die Anhörung der Mitarbeitenden bei firmeninternen Entscheidungen
    • Hohes Maß an Ehrlichkeit und Transparenz, Informationen wahrheitsgetreu weitergeben
    • Entwicklungsprozesse und Beziehungsarbeit als sinnvolle Investitionen verstehen
    • Unparteilichkeit von Entscheidungsträgern

    Und wer noch eine Schippe drauflegen kann und mag:
    • Anonymisierte Bewerbungsverfahren
    • Transparenz bei Gehältern, Beförderungen, Einstellungen, Fortbildungen

    Die großen Fragen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit bleiben weiterhin offen. Wie so oft, kann das eigene Verhalten im Kleinen einen Unterschied machen, dass sich auch dauerhaft im Großen etwas ändern kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Vorbildwirkung Sog erzeugt und sich Viele anschließen.

    Es ist wie so oft eine Frage der Haltung, sich Fragen zur Gerechtigkeit immer wieder bewusst zu machen, zuzuhören, konsequent Lücken zu erkennen, unterschiedliche Meinungen auszuhalten, Verbesserungen anzustreben und diese im Laufe der Zeit auch immer wieder anzupassen, bilden die Basis für ein gerechteres und faires Arbeitsumfeld.

    Es entsteht eine Arbeitsatmosphäre, die von Wertschätzung, Akzeptanz und Hilfsbereitschaft geprägt ist, den Stresspegel senkt und die psychische Belastung reduziert. Die wichtigsten Stell-Schrauben für gesunde, langfristig motivierte, oft innovative Beschäftigte, die sich mit dem Unternehmen identifizieren. Das ist es doch wert, oder?

    Auch auf die Gefahr hin, dass ich dem Thema Gerechtigkeit mit dem Schluss dieses Blogartikels nicht gerecht werde, weil es einfach noch so viele Facetten gibt – möge es euch einfach inspirieren.

    Eure Jana